Foren-Übersicht Themen des Monats 2017 Thema des Monats September 2017 - Die 100 Wörter des 20. Jahrhunderts philatelistisch dokumentiert 84. Sterbehilfe Dietrich Bonhoeffer zum Thema Selbstmord

Dietrich Bonhoeffer zum Thema Selbstmord

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Zum Thema Selbstmord hat sich Dietrich Bonhoeffer Gedanken gemacht:
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Hier ein Originalzitat von Dietrich Bonhoeffer:

Der Mensch hat sein Leben im Unterschied zum Tier nicht als einen Zwang, den er nicht abwerfen kann, sondern er hat
sein Leben in der Freiheit, es zu bejahen oder zu vernichten. Der Mensch kann, was kein Tier kann, sich selbst freiwillig
den Tod geben.
Während das Tier mit seinem leiblichen Leben eins ist, kann sich der Mensch von seinem leiblichen Leben unterscheiden. Die Freiheit, in der der Mensch sein leibliches Leben hat, läßt ihn dieses Leben frei bejahen und weist ihn zugleich über das leibliche Leben hinaus, sie läßt ihn sein leibliches Leben als zu bewahrende Gabe wie als darzubringendes Opfer verstehen.
Nur weil der Mensch frei ist zum Tode, kann er sein leibliches Leben um eines höheren Gutes willen hingeben. Ohne die Freiheit zum Lebensopfer im Tode gibt es keine Freiheit für Gott, gibt es kein menschliches Leben.
Das Recht des Lebens will im Menschen durch Freiheit gewahrt sein. Es ist also kein absolutes, sondern ein durch Freiheit bedingtes Recht. Dem Recht auf Leben steht die Freiheit, das Leben als Opfer einzusetzen und hinzugeben, gegenüber. Im Sinne des Opfers also hat der Mensch Freiheit und Recht zum Tode, doch nur so, daß nicht die Vernichtung des eigenen Lebens, sondern das im Opfer erstrebte Gut Ziel des Lebenseinsatzes ist.
Mit der Freiheit zum Tode ist den Menschen eine unvergleichliche Macht gegeben, die leicht zum Mißbrauch führen kann. Der Mensch kann durch sie in der Tat zum Herrn seines irdischen Schicksals werden, indem er sich nach freiem Entschluß ein
er Niederlage durch selbst gesuchten Tod entzieht und so dem Schicksal seinen Sieg raubt. Patet exitus (Seneca) —
das ist die Proklamation der menschlichen Freiheit gegenüber dem Leben. Von dieser Möglichkeit nicht Gebrauch zu machen, wird ein Mensch, der im Kampf mit dem Schicksal seine Ehre, seine Arbeit, den einzig geliebten Menschen verloren hat und dem sein Leben damit zerstört ist, schwerlich zu überreden sein, sofern ihm der Mut zu dieser Tat seiner Freiheit und seines Sieges noch geblieben ist. Es kann ja nicht bestritten werden, daß der Mensch mit dieser Tat noch einmal sein — vielleicht mißverstandenes — Menschentum gegen das blinde, unmenschliche Schicksal ausspielt und in Kraft setzt. Der Selbstmord ist
eine spezifisch menschliche Tat, und es ist nicht verwunderlich, daß er als solcher immer wieder Beifall und Rechtfertigung durch
edle Menschen erfahren hat.
Über jede kleinliche, moralisierende Beurteilung als Feigheit und Schwäche ist diese Tat, sofern sie in Freiheit vollzogen wird, erhaben. Der Selbstmord ist die letzte und äußerste Selbstrechtfertigung des Menschen als Mensch und damit — vom rein menschlichen her gesehen — sogar in gewissem Sinne die selbstvollbrachte Sühne für ein verfehltes Leben. Nicht die Verzweiflung, in der sich diese Tat meist ereignen wird, ist selbst der eigentliche Urheber des Selbstmordes,
sondern die Freiheit des Menschen, selbst in seiner Verzweiflung noch eine höchste Selbstrechtfertigung zu vollziehen. Kann der Mensch sich nicht in seinem Glück und Erfolg rechtfertigen, so kann er es doch noch in seiner Verzweiflung. Kann er sein Recht auf ein menschliches Leben nicht in seinem leiblichen Leben durchsetzen, so kann er es doch noch durch Vernichtung seines Leibes. Kann er die Anerkennung seines Rechtes nicht von der Welt erzwingen, so kann er sie sich in letzter Einsamkeit selbst schaffen. Der Selbstmord ist der Versuch des Menschen, einem menschlich sinnlos gewordenen Leben einen letzten
menschlichen Sinn zu verleihen. Das unwillkürliche Gefühl des Schauders, das uns angesichts der Tatsache eines Selbstmordes ergreift, ist nicht auf die Verwerflichkeit, sondern auf die schaurige Einsamkeit und Freiheit solcher Tat zurückzuführen, in der noch Bejahung des Lebens nur in seiner Vernichtung besteht.
Wenn nun dennoch von der Verwerflichkeit des Selbstmordes gesprochen werden muß, so gilt das nicht vor dem Forum der Moral oder der Menschen, sondern allein vor dem Forum Gottes. Schuldig wird der Selbstmörder allein vor Gott, dem Schöpfer und Herrn über sein Leben. Weil ein lebendiger Gott ist, darum ist der Selbstmord verwerflich als Sünde des Unglaubens. Unglaube aber ist keine moralische Verfehlung, sondern er ist edler wie gemeiner Motive und Taten fähig. Der Unglaube aber rechnet im Guten wie im Schlechten nicht mit dem lebendigen Gott. Das ist die Sünde. Der Unglaube ist der Grund, aus dem der
Mensch nach seiner eigenen Rechtfertigung und ihrer letzten Möglichkeit im Selbstmord greift, weil er an eine göttliche Rechtfertigung nicht glaubt. Der Unglaube verbirgt dem Menschen in verhängnisvoller Weise die Tatsache, daß auch der Selbst
mord ihn aus der Hand Gottes, der ihm sein Schicksal bereitet hat, nicht freigibt. Der Unglaube erkennt über der Gabe
des leiblichen Lebens nicht den Schöpfer und Herrn, der das alleinige Verfügungsrecht über seine Schöpfung hat. Hier stoßen wir auf die Tatsache, daß das natürliche Leben sein Recht nicht in sich selbst, sondern in Gott hat. Die dem menschlichen im natürlichen Leben gegebene Freiheit zum Tode wird mißbraucht, wo sie nicht im Glauben an Gott gebraucht wird.
Gott hat sich das Recht über das Ende des Lebens selbst vorbehalten, weil nur er weiß, zu welchem Ziel er das Leben führen will. Er allein will es sein, der ein Leben rechtfertigt oder verwirft. Vor ihm wird Selbstrechtfertigung zur Sünde schlechthin und darum auch der Selbstmord. Es gibt keinen anderen zwingenden Grund, der den Selbstmord verwerflich macht als die Tatsache, daß es über den Menschen einen Gott gibt. Diese Tatsache wird durch den Selbstmord geleugnet.
Nicht die Niedrigkeit der Motive macht den Selbstmord verwerflich. Man kann aus niedrigen Motiven am Leben bleiben und aus edlen Motiven aus dem Leben gehen. Nicht das leibliche Leben als solches hat ein letztes Recht an den Menschen. Der Mensch steht in Freiheit seinem leiblichen Leben gegenüber und das Leben ist der Güter höchstes nicht. Auch die menschliche Gemeinschaft kann nicht, wie Aristoteles meint, ein letztes Recht auf das leibliche Leben des Einzelnen begründen. Ihr gegenüber ist dem Menschen von Natur ein letztes Verfügungsrecht über sich selbst gegeben. Die Gemeinschaft mag den Selbstmord unter Strafe stellen; dem Täter selbst gegenüber wird sie ein zwingendes Recht auf sein Leben nicht glaubwürdig machen können. Schließlich genügt aber auch die in der christlichen Kirche weitverbreitete Begründung nicht, daß der Selbstmord die Reue und darum die Vergebung unmöglich mache.
Viele Christen sind durch jähen Tod mit unbereuter Sünde gestorben. Hier liegt eine Überschätzung des letzten Augenblicks vor. Alle die genannten Gründe bleiben auf halbem Wege stehen, sie enthalten etwas Richtiges, ohne das Entscheidende auszusprechen und sind nicht zwingend.
Gott, der Schöpfer und Herr des Lebens, nimmt das Recht des Lebens selbst wahr. Der Mensch braucht nicht Hand an sich zu legen, um sein Leben zu rechtfertigen. Weil er es nicht braucht, darum darf er es auch nicht. Es ist eine merkwürdige
Tatsache, daß die Bibel an keiner Stelle den Selbstmord ausdrücklich verbietet, sondern daß dieser immer wie
der (übrigens nicht ausschließlich) als die Folge schwerster Sünde auftritt, so bei den Verrätern Ahithophel und Judas. Der Grund hierfür ist nicht, daß die Bibel den Selbstmord billigt, sondern daß sie an die Stelle des Verbotes des Selbstmordes den Gnaden- und Bußruf an den Verzweifelten treten lassen will. Der am Rande des Selbstmords Stehende hört kein Verbot
oder Gebot mehr, er hört nur noch den gnädigen Ruf Gottes zum Glauben, zur Errettung, zur Umkehr. Den Verzweifelten rettet kein Gesetz, das an die eigene Kraft appelliert, es treibt ihn nur noch hoffnungsloser in Verzweiflung; dem am Leben Verzweifelnden hilft nur die rettende Tat eines andern, das Angebot eines neuen Lebens, das nicht aus eigener Kraft,
sondern aus Gottes Gnade gelebt wird. Wer nicht mehr leben kann, dem hilft auch der Befehl, daß er leben soll, nicht weiter, sondern allein ein neuer Geist.
Gott tritt für das Recht auf Leben auch gegen den seines Lebens überdrüssig Gewordenen ein.
Er gibt dem Menschen die Freiheit, sein Leben für Größeres einzusetzen, aber er will nicht, daß sich diese Freiheit willkürlich gegen das eigene Leben kehrt. Der Mensch soll nicht die Hand an sich selbst legen, so gewiß er sein Leben andern zum Opfer bringen soll. Der Mensch soll sein irdisches Leben, auch dort, wo es ihm zur Qual wird, ganz in Gottes Hand geben, aus
der es gekommen ist, und sich nicht durch Selbsthilfe zu befreien trachten. Er fällt ja auch sterbend nur wieder in Gottes Hand, die ihm im Leben zu hart wurde.
Viel schwieriger als dieses Grundsätzliche ist das Urteil über den Einzelfall. Da der Selbstmord eine Tat der Einsamkeit ist, bleiben die letzten entscheidenden Motive fast immer verborgen. Selbst dort, wo eine äußere Lebenskatastrophe vorangegangen ist, entzieht sich die tiefste innere Begründung der Tat dem fremden Einblick. Weil die Grenze zwischen der
Freiheit des Lebensopfers und dem Mißbrauch dieser Freiheit zum Selbstmord für ein menschliches Auge oft kaum zu erkennen ist, ist dem Urteil über die einzelne Tat damit die Grundlage entzogen. Gewiß bleibt das Hand-an sich-legen eine Tatsache, die von der Gefährdung des eigenen Lebens im notwendigen Einsatz unterschieden ist. Aber es wäre kurzsichtig, jede Form der Selbsttötung ohne weiteres dem Selbstmord gleichzusetzen. Dort nämlich, wo es bei der Selbsttötung um ein bewußtes Opfer des eigenen Lebens für andere Menschen geht, muß ein Urteil zum mindesten suspendiert werden, weil hier die Grenze
menschlicher Erkenntnis erreicht ist. Allein wo ausschließlich und bewußt in Rücksicht auf die eigene Person gehandelt wird, wird Selbsttötung zum Selbstmord. Wer aber wollte über diese Ausschließlichkeit und Bewußtheit mit Gewißheit etwas zu sagen wagen? Wo ein Gefangener sich das Leben nimmt, weil er fürchten muß, unter der Anwendung der Folter sein Volk, seine Familie, seinen Freund zu verraten, wo ein Staatsmann, dessen Auslieferung der Feind unter Androhung von Repressalien gegen sein Volk fordert, nur durch freien Tod seinem Volk schweren Schaden ersparen kann, dort tritt die Selbsttötung so stark unter das Motiv des Opfers, daß eine Verurteilung der Tat unmöglich wird. Wenn ein unheilbar Kranker sehen muß, daß seine Pflege den materiellen und seelischen Zusammenbruch seiner Familie zur Folge hat und durch eigenen Entschluß die Seinen von dieser Last befreit, so mögen gewiß manche Bedenken gegen so eigenmächtiges Handeln bestehen, dennoch wird eine
Verurteilung auch hier nicht möglich sein. Eine Absolutsetzung des Verbotes der Selbsttötung gegenüber der Freiheit des Lebensopfers läßt sich angesichts solcher Fälle schwerlich begründen. Selbst die alten Kirchenväter hielten die Selbst
tötung bei Christen unter bestimmten Umständen für erlaubt, so zum Beispiel wenn die Keuschheit durch Gewalt bedroht war,
wenngleich schon Augustin dies bestritt und das Selbsttötungsverbot absolut setzte. Es scheint jedoch kaum möglich zu sein, die erwähnten Fälle grundsätzlich von jener selbstverständlichen Christenpflicht zu unterscheiden, in der etwa beim Sinken eines Schiffes der Christ den letzten Platz im Rettungsboot einem anderen läßt und sehenden Auges in den Tod geht oder in der ein Freund den Leib des Freundes mit dem eigenen Leib vor der Kugel schützt. Der eigene Entschluß wird hier zur Ursache des eigenen Todes, wenngleich der Unterschied zwischen der direkten Selbsttötung und dem Lebenseinsatz, in dem das
Leben Gott anheimgegeben wird, noch vorhanden ist. Anders liegen offenbar die Dinge, wenn rein persönliche Vorkommnisse, also etwa Verletzung der Ehre, erotische Leidenschaft, finanzieller Zusammenbruch, Spielschulden oder schwere persönliche
Verfehlungen zum Selbstmord führen, also durch die Selbsttötung nicht fremdes Leben geschützt, sondern ausschließlich das eigene Leben gerechtfertigt werden soll. Freilich wird im konkreten Fall auch hier der Opfergedanke nicht ganz fehlen. Immerhin wird hier die Rettung der eigenen Person vor Schande und Verzweiflung alle anderen Motive überwiegen und also der Unglaube der letzte Grund der Tat werden. Daß Gott auch einem gescheiterten Leben wieder Sinn und Recht geben kann, ja daß gerade durch Scheitern hindurch ein Leben erst zu seiner eigentlichen Erfüllung kommen kann, das wird hier nicht geglaubt. Darum bleibt die Beendigung des Lebens die letzte Möglichkeit des Menschen, seinem Leben selbst Sinn und Recht wiederzugeben und sei es auch im Augenblick seiner Vernichtung. Es wird auch hier wieder ganz deutlich, daß eine rein moralische Beurteilung des Selbstmordes nicht möglich ist, daß der Selbstmord vielmehr vor einer atheistischen Ethik wohl bestehen kann.
Das Recht des Selbstmordes zerbricht allein an dem lebendigen Gott.
Abgesehen aber von allen äußeren Gründen gibt es eine Versuchung zum Selbstmord, die gerade den Glaubenden besonders befällt, eine Versuchung zum Mißbrauch der von Gott gegebenen Freiheit gegen das eigene Leben. Der Haß gegen die Unvollkommenheit des eigenen Lebens, die Erfahrung der Widerspenstigkeit des irdischen Lebens überhaupt gegen
eine Erfüllung durch Gott, die daraus entspringende Traurigkeit und der Zweifel an jedem Lebenssinn überhaupt können in gefährliche Stunden führen. Luther hat davon viel zu sagen gewußt. Es gibt dann kein menschliches oder göttliches Gesetz, das die Tat zu verhindern vermöchte, sondern allein der Trost der Gnade und die Macht brüderlichen Gebetes kann in solcher Anfechtung helfen. Nicht das Recht auf Leben, sondern die Gnade, noch weiter leben zu dürfen unter Gottes Vergebung, vermag gegen diese Versuchung zum Selbstmord zu bestehen. Wer aber wollte sagen, daß Gottes Gnade nicht auch das Versagen unter dieser härtesten Anfechtung zu umfassen und zu tragen vermöchte?

Quelle: Dietrich Bonhoeffer, Ethik, München 1988, 176-184

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